„Lasst uns eine neue Brücke bauen“

Von der Erlebnisgeneration zur Bekenntnisgeneration

Drei Bundesvorsitzende der LDU beim Bundesschwabenball 2017: Klaus J. Loderer (2006-2017), Joschi Ament (seit 2017), Dr. Friedrich Zimmermann (1999-2006)

Der deutsche Schriftsteller Ernst Wiechert formulierte einst treffend: „Mancher, der die Vertreibung nicht kennt, meint, wir wären gegangen, wie man frühmorgens auf die Felder geht. Die Rückkehr, der Tagesablauf sicher, die Stunde der Heimkehr im Schritt. Es war aber ganz anders!

Jahrelange Sehnsucht, die zur Verzweiflung geronnen. Langsam habt ihr, wie ich – haben wir uns mit dem Schicksal abgefunden. Aber manchmal waren es die Träume, die uns an eine längst vergangene Zeit zurückerinnerten.

Einst fragten die Kinder, wenn man erzählte: Wo kommt ihr her? Weshalb vertrieb man euch? Wie war der Himmel in eurem Land? Und gab es Blumen?

Nicht, dass der Weg zu Ende wäre – und alles gut ist. Niemals wird er zu Ende sein. Er wird sich verzweigen in Kindern und Enkeln. Aber auf den Spuren des bitteren Weges werden kommende Generationen sich rückwärts tasten in das Land ihrer Ahnen. Nie vergessen, hier wie dort sind wir zu Haus. Auf dem verlassenen Friedhof, auf der Suche nach den Kreuzen mit ausgelöschten Namen.“

Wiecherts Gedanke lässt sich natürlich in vielerlei Hinsicht interpretieren. Für mich persönlich bedeutet er, dass mit der Vertreibung der Deutschen aus Ungarn eine geschichtliche Epoche unwiderruflich zu Ende gegangen ist.

Treffen von Emmerich Ritter, Joschi Ament und Otto Heinek (Budapest 2017)

Ich – als eine Person dieser so genannten Bekenntnisgeneration, also ein Deutscher mit ungarndeutschen Familienwurzeln, der erst nach der Vertreibung in Deutschland geboren wurde – betrachte dieses Ende aber gleichzeitig als Ausgangspunkt für etwas Neues, einen geistigen Impuls, der es wert ist, sich für die Geschichte und das kulturelle Erbe einer ganzen Volksgruppe – nämlich der, der Deutschen aus Ungarn – einzusetzen.

Dazu möchte ich Ihnen exemplarisch für viele ungarndeutsche Familien einen ganz persönlichen Einblick in meine Familiengeschichte nach 1946 geben.

Meine familiären Wurzeln und meine Leidenschaft für die Landsmannschaft der Deutschen aus Ungarn liegen genau in dieser untergegangenen Welt der vertriebenen Ungarndeutschen. Die Stimmen der Vergangenheit waren vielfältig in meiner Kindheit und Jugend. Die Erinnerungen an die alte Heimat meiner Großeltern und Urgroßeltern wurden dabei immer hochgehalten, der Zusammenhalt in der deutschen „Fremde“ war anfangs groß. Bei Familienfeiern – bei Geburtstagen und Hochzeiten – kam die ganze Großfamilie noch bis in die 1980er Jahre zusammen. Wir lebten bei solchen Festen auch alte Traditionen und pflegten das Brauchtum der Ungarndeutschen.

Mit dieser Sehnsucht meiner Familie nach ihrer alten Heimat bin ich groß geworden.

Mit dem Ableben meiner Großeltern- und Urgroßelterngeneration veränderte sich wie bei vielen ungarndeutschen Familien jedoch dieses Bild.

Treffen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (Berlin 2019)

Das Interesse an der einstigen Heimat der Eltern war bei der ersten Nachkriegsgeneration weitaus schwächer ausgeprägt als bei der Erlebnisgeneration.

Deshalb sehe ich auch den Ausgangspunkt für dieses Neue – den genannten geistigen Impuls – auch nicht bei der Kindergeneration sondern im Interesse der Enkel oder Urenkelgeneration der einst vertriebenen Ungarndeutschen. Diese sind nämlich zwischenzeitlich wieder auf der Suche nach ihren Wurzeln.

Hierzu passend möchte ich Ihnen von einer Begegnung aus dem Frühjahr 2018 erzählen.

Bundesschwabenball 2007: Baden-Württembergs Ministerpräsident a.D. Lothar Späth zusammen mit Rita und Joschi Ament

Stefanie ist 38 Jahre alt. Sie ist verheiratet und wohnt mit ihrer Familie im Raum Stuttgart. Sie will sich im Sommer 2019 auf Spurensuche begeben und erzählt dabei: „Dass meine Großeltern aus Ungarn stammen, war immer präsent.“ Vor allem Oma habe oft von der „alten Heimat“ erzählt. Die traumatischen Erlebnisse der Deportation nach Russland und die Vertreibung der Familie im April 1946 in den Stuttgarter Raum spielten dabei bei Oma sicherlich immer eine wichtige Rolle. „Aber ich kenne auch viele schöne Erlebnisse aus ihrer Kindheit“, erinnert sich Stefanie.

Damit nicht genug. Stefanie berichtet, dass sie Omas alte Fotos in Ehren hält, und zu Festtagen gibt es schon mal traditionelle Speisen nach den Rezepten aus Omas vergilbten Kochbuch.

Zusammen mit ihrem Mann und den beiden Kindern plant Stefanie einen Besuch in Ungarn, „auf den Spuren ihrer Vorfahren“, wie sie lächelnd berichtet. Vor allem das Elternhaus der Großmutter, die Kirche und den Friedhof möchte Stefanie unbedingt besuchen. „Oma hat so viele Geschichten von Ungarn erzählt“, schwärmt Stefanie.

Joschi Ament, Minister Guido Wolf und Dr. Hajnalka Gutai (Geschäftsführerin LdU in Ungarn) nach der Unterzeichnung der Städtepartnerschaft Elek/Laudenbach im August 2018

Was Stefanie mir dabei erzählte, scheint tatsächlich einem allgemeinen Trend zu entsprechen. Das Interesse der Enkel und Urenkel der Erlebnisgeneration wächst. Während sich die erste Nachkriegsgeneration oft bewusst von den Eltern und ihrer Sehnsucht nach der verlorenen Heimat abgrenzen wollte, sind viele junge Leute zwischenzeitlich auf der Suche nach ihren Wurzeln.

Und noch etwas hat sich geändert: mit dem Aussterben der Zeitzeugen verschwinden auch die alten Ressentiments. Die nachwachsenden Generationen nähern sich den Themen von Flucht, Deportation und Vertreibung dabei frei von Ideologien. Was in den Nachkriegsjahren kaum denkbar war, ist heute selbstverständlich: deutsche Jugendliche erforschen gemeinsam mit jungen Ungarn die Geschichte der einst deutsch besiedelten Gebiete.

Eines freilich lässt sich nicht mehr aufhalten: die Traditionen der Ungarndeutschen werden zunehmend ein Fall für das Geschichtsbuch und das Museum. Denn je größer der Abstand zeitlich und emotional, umso weniger begreifen die Nachkommen dieses Erbe als Teil ihrer Identität, umso weniger leben sie die alten Traditionen. Ein Indiz für diesen Mentalitätswandel ist auch die Sprache. Hatte die erste Generation ungarisch oder die Mundart noch in die neue Heimat hinübergerettet, ging die Zahl der Dialektsprecher in der zweiten Generation zurück. Heute sind unsere Mundarten so gut wie verschwunden. In manchen Familien wurden bestimmte Begriffe weitergegeben, mehr aber auch nicht.

Worin liegen nun die Herausforderungen für unsere Landsmannschaft und unsere Patenstadt Gerlingen, um den Wechsel von der Erlebnis- zur Bekenntnisgeneration erfolgreich zu vollziehen?

Ich glaube, die größte Herausforderung besteht darin, den Menschen der Enkel- und Urenkelgeneration eine symbolische Brücke hin zur Bekenntnisgeneration zu bauen. Denn es wird um mehr gehen, als nur das Bewahren von Brauchtum und Traditionen in der eigenen Familie.

Deshalb besteht für mich persönlich die Aufgabe darin, für die Wahrnehmbarkeit unserer Landsmannschaft und unserer Patenschaft zu sorgen. Die Generation, wo ein jeder jeden kannte und jeder genau wusste, wo und wann das nächste Heimattreffen stattfindet, gibt es nicht mehr. Insofern muss es uns – auch durch den Einsatz der modernen Medien – gelingen, ein funktionierendes Netzwerk um unsere Landsmannschaft herum aufzubauen, um damit auf unsere Veranstaltungen, auf unsere Arbeit und auf unsere Angebote hinzuweisen.

Prof. Dr. Bernd Fabritius, Olivia Schubert, Dr. Hajnalka Gutai, Joschi Ament anlässlich des 30-jährigen Bestehens des Amtes der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten im November 2018 in Berlin

Zu dieser Arbeit gehört für mich auch, unsere Themen und unsere Anliegen bei den für uns wichtigen Behörden und Institutionen zu platzieren. Damit meine ich in erster Linie die Vertreter in der Bundes- und Landespolitik, den Bürgermeistern und Gemeinderäten unserer Patenstädte, aber auch die landesweiten Forschungseinrichtungen für Geschichte und Volkskunde der Ungarndeutschen.

Um die Geschichte der Ungarndeutschen vor dem Vergessen zu bewahren, wird eine weitere Aufgabe auch darin bestehen, weiterhin auf eine historisch korrekte Darstellung der Geschehnisse von Flucht, Deportation und Vertreibung hinzuwirken.

Wir müssen uns deshalb dafür einsetzen, dass unsere zahlreichen Veranstaltungen, wie zum Beispiel traditionelle Kirchweihfeste, aber auch unsere Heimatstuben, unsere Bibliotheken, unsere Museen und unsere Gedenkstätten mit Unterstützung unserer weit mehr als 100 Patenstädte und -gemeinden und unserem Heimatland Baden-Württemberg auch für künftige Generationen erhalten und zugänglich bleiben.

Nur eine solche öffentliche Unterstützung bringt ein hohes Maß an Verbindlichkeit der Erinnerung für ein gemeinsames Geschichtsbewusstsein unserer ganzen Nation – und damit für Jung und Alt – zum Ausdruck.

Zum Bekenntnis gehört für mich aber auch die Kontaktpflege in die einstige Heimat unserer Vorfahren und zu den dort lebenden Ungarndeutschen.

Insofern müssen wir auch hier die Rahmenbedingungen erhalten und die Beziehungen zur Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen auf Landes- Komitats- und Ortsebene festigen.

Wenn es uns gelingt, auch künftig die bestehende Vereinbarung zwischen der LDU in Deutschland und der LdU in Ungarn richtig mit Leben zu füllen, bin ich fest davon überzeugt, dass wir neue Brücken für eine lebendige Völkerverständigung schaffen können.

Festakt zum 50-jährigen Bestehen der Patenschaft:
Gerlingens Bürgermeister Georg Brenner, Minister Guido Wolf, Joschi Ament und Ministerpräsident a.D. Erwin Teufel

Und so möchte ich mit einem letzten kleinen Erlebnis aus dem Sommer 2018 schließen.

Michael ist 41 Jahre alt. Er ist das erste Mal in Ungarn im Geburtsort seines Großvaters und erzählt. „Opa hat viel von Ungarn und seiner unbeschwerten Kindheit in Ungarn geschwärmt. Aber ebenso tief waren die Narben der Verbitterung über den Verlust der Heimat.“

Michaels Großvater kam nie mehr nach Ungarn zurück. Sein Sohn Georg – Michaels Vater – hatte deshalb nie die Gelegenheit, die Heimat seines Vaters kennenzulernen. Die Erinnerungen an die ungarndeutsche Familiengeschichte verblassten.

Michael ist glücklich und nachdenklich zugleich. „Trotz allem Leid begreife ich erst hier und heute das Heimweh von Opa. Schade, dass ich nicht mit ihm diese Reise in seine alte Heimat unternehmen konnte. Zu gerne würde ich ihn jetzt in den Arm nehmen und ihm sagen, dass ich stolz auf ihn bin.“

„Nicht, dass der Weg zu Ende wäre – und alles gut ist. Niemals wird er zu Ende sein. Er wird sich verzweigen in Kindern und Enkeln. Aber auf den Spuren des bitteren Weges werden kommende Generationen sich rückwärts tasten in das Land ihrer Ahnen. Nie vergessen, hier wie dort sind wir zu Haus. Auf dem verlassenen Friedhof, auf der Suche nach den Kreuzen mit ausgelöschten Namen.“

Lassen Sie uns deshalb gemeinsam diese neue Brücke bauen.

Joschi Ament, Elek/Ungarn 2016

Joschi Ament

Bundesvorsitzender

 

(Quelle: Festschrift der Stadt Gerlingen anlässlich „50 Jahre Patenschaft über die Landsmannschaft der Deutschen aus Ungarn“, April 2019)