„Über den Gedenktag der Verschleppung und Vertreibung der Ungarndeutschen“

Stellvertretender Ministerpräsident Zsolt Semjén bei der Gedenkveranstaltung in Elek am 19.01.2019

„Riadtan kondultak a harangok,

vádoló szavuk a mezőkig hatolt,

s komoran kérdék a világ

lelkiismeretét: mit tettél?

(…)

Ne vegyétek el az ember meghitt otthonát,

ne kelljen elhagynia édes hazáját!

A hazát, mely jövővel bíztatott,

melyben mindnyájunk bölcsője ringatott!”

(Elisabeth Neuberger-Schneider Elűzetve – részlet)

„Bange haben die Glocken gesungen,

Hinaus über Lander ist es gedrungen,

Schaurig, düster, als klagten sie an,

Weltgewissen, was hast du getan?

(…)

Raubt nicht der Menschen teuren Ort,

Treibt sie nicht aus der Heimat fort,

Von den Heimat, die ihnen Zuversicht,

In der erstrahlte ihr Lebenslicht!”

(Elisabeth Neuberger-Schneider: Vertriebenheit – Auszug)

 

Die Idee der homogenen Nationalstaaten hat im Europa des 20. Jahrhunderts zu blutigen Kriegen, ungerechten Friedensschlüssen, Diskriminierung, Entrechtung und in der letzten Phase des Zweiten Weltkriegs – auf in Europa bis dahin beinahe beispiellose Weise – zur Aussiedlung, Vertreibung und Vernichtung von Völkern und Volksgruppen geführt. Unter anderem waren mehr als 13 Millionen Deutschstämmige gezwungen, den oft über Jahrhunderte zu ihrer Heimat gewordenen Boden zu verlassen, der über Generationen geschaffenen sicheren Existenz den Rücken zu kehren und mit einem „Bündel“, das sie auf dem Rücken tragen konnten, vor der Roten Armee in Richtung Westen in eine unsichere Existenz zu flüchten.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die seit Beginn der ungarischen Eigenstaatlichkeit in unserer Heimat lebenden Deutschstämmigen als kollektivschuldig ausgerufen und zur Verantwortung gezogen, auch ihre Vertreibung fügte sich schließlich in diese Reihe ein.

Die Ende Dezember 1945 in der Regierung die Mehrheit stellende Partei der Kleinen Landwirte mit Ministerpräsident Zoltán Tildy forderte zusammen mit dem Vertreter der Bauernpartei und den vier Ministern der kommunistischen Partei, jedoch mehrheitlich und keinen Widerspruch duldend, ihre Vertreibung. Sie waren es, die die Vertreibung geplant, beschlossen und vollzogen haben. Jene, die Ungarns Tore geschlossen haben. Jene Tore, die über Jahrhunderte für die fleißigen Bauern, Handwerker und Händler, welche der Entwicklung des Landes zuträglich waren, offen standen. Auch deshalb ist das verschlossene Tor mit dem auf den Tisch gelegten Schlüssel am Vertreibungsdenkmal auf dem Friedhof von Budaörs symbolisch. Es symbolisiert das Schicksal sämtlicher vertriebener Deutscher: Jener, die die Tür ihres Geburtshauses, ihrer mit den Ahnen zusammen hart erarbeiteten Wertsachen mit Tränen in den Augen verschlossen und den Schlüssel an Fremde übergeben hatten und dann in Viehwagons verladen oder auf den schlammigen Straßen Europas zu Fuß oder auf Karren in das Unsichere aufbrachen. Aber es erzählt auch über jene, die zwar zuhause bleiben durften, aber ihrer Muttersprache, ihrer Rechte, ihrer Würde und ihres Vermögens beraubt weiterleben mussten, hinter verschlossenen Türen und Grenzen.

Mit ihrer am 29. Dezember 1945 angekündigten Verordnung Nr. 12.330/1945 ME hat die Nationale Übergangsregierung das Verbrechen der Zwangsaussiedlung eingeleitet. Die Vertreibung, von der mit Ausnahme des nordöstlichen Teils des Landes alle von deutschen bewohnten Regionen betroffen waren, fand in drei großen Wellen zwischen dem 19. Januar 1946 und dem 15. Juni 1948 statt und betraf rund 200.000 Menschen.

Laut der Volkszählung von 1941 lebten in dem damaligen Ungarn ungefähr eine halbe Million deutschstämmige Staatsangehörige. Infolge der Schrecken des Weltkrieges, der sowjetischen Besatzung, der zu „malenkíj robot“ verschleppten Massen und schließlich der gewaltsamen Aussiedlung gaben bei der Volkszählung im Jahr 1949 lediglich 22.455 Personen Deutsch als ihre Muttersprache an und insgesamt 2.600 bekannten sich als deutschstämmig.

Die schrecklichen Ereignisse vor mehr als sieben Jahrzehnten wurden von den damals herrschenden politischen Tendenzen angeregt und vollzogen. Um die schwere historische Last der Vertreibung zu lindern, hat das Ungarische Parlament – auf Initiative der Abgeordneten der die bürgerliche Regierung bildenden Parteien – es für wichtig erachtet, den Jahrestag des Beginns der Vertreibung im Jahre 1946, den 19. Januar zum Gedenktag der Verschleppung und Vertreibung der Ungarndeutschen zu erklären.

Im Sündenregister der Kommunisten, die nach 1945 mit Hilfe der mächtigen sowjetischen Waffen nach und nach die Macht in Ungarn übernahmen, stellt die erzwungene Vertreibung unserer Mitbürger deutscher Abstammung nur einen – wenn auch sehr schmerzhaften – Posten dar. Die Regierung Ungarns – die den durch die Trennung von der Nation verursachten Schmerz kennt und nachempfindet – setzt sich dafür ein, dieses Trauma zu lindern und die Wunden zu heilen. Dabei hilft auch dieser Gedenktag. Das wird auch durch die im Grundgesetz und im Gesetz über die Rechte der Nationalitäten formulierten und in einen sicheren Rahmen eingebetteten Nationalitätenpolitik Ungarns belegt, welche in ganz Europa beispielhaft ist.

Die aus Ungarn vertriebenen Deutschen waren dann die ersten, die Kontakt zu ihrer alten Heimat aufnahmen und dadurch die Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Ungarn förderten. Nach der politischen Wende beschleunigte sich dieser Prozess, und die Vertiefung der bis dahin nur zurückhaltend existierenden Kontakte zwischen vertriebenen und zuhause gebliebenen Mitbürgern deutscher Abstammung und das Ausfüllen dieser Kontakte mit neuen Inhalten begann. Fast jede Gemeinde – im Fall der Hauptstadt, jeder Stadtteil, Bezirk – suchte sich eine Partnergemeinde und schloss eine enge und lebendige Kooperationsvereinbarung mit deutschen Kommunen ab – vor allem mit solchen, wo ihre einstigen Einwohner angesiedelt worden waren. Nacheinander wurden Gedenkstätten über die Vertreibung errichtet, bei denen am Tag der Vertreibung Gedenkfeiern stattfinden.

Im multinationalen und vereinigten Europa sind die Möglichkeiten, die in dem Kontakt zwischen unseren in Deutschland lebenden, aus Ungarn vertriebenen und den zuhause gebliebenen Brüdern und Schwestern deutscher Abstammung verborgen sind, ein unverzichtbarer Schatz. Ein wichtiges Merkmal dieser lebendigen und fruchtbaren Beziehung ist, dass die gemeinsame Abstammung für beide Seiten – Heimatvertriebene und Heimatverbliebene – einen zu vererbenden Wert darstellt, beziehungsweise auch die Tatsache ist zu betonen, dass die Vertriebenen ihre ungarndeutsche Identität bewahrt haben. Es sind Werte, die auf einem tausendjährigen Zusammenleben beruhen, und auf die Ungarn, Deutschland und ganz Europa sicher bauen kann.

Von den in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg vertriebenen deutschen Gruppen haben alleine die aus Ungarn vertriebenen Schwaben die Nationalflagge ihrer Heimat auf die sie abtransportierenden Viehwagons gehisst und alleine sie schrieben „Gott sei mit Dir, unsere Heimat!“ darauf. Wir unternehmen alles, damit wir unseren zu uns zurückkehrenden Brüdern mit den Menschen deutscher Nationalität in Ungarn gemeinsam und aufrichtigen Herzens sagen können: „Willkommen zuhause!“.

 

Richard Tircsi

Leiter der Hauptabteilung für Nationalitäten im Amt des Ministerpräsidenten von Ungarn

 

(Quelle: Festschrift der Stadt Gerlingen anlässlich „50 Jahre Patenschaft über die Landsmannschaft der Deutschen aus Ungarn“, April 2019)